Archiv für Juni 2021

EM-Tagebuch – Teil 3: Alles auf Null

26 Juni 2021

Irgendwann zwischen 1982 und 1986 hatte das FIFA-Exekutiv-Komitee einen lichten Moment. Die bei den Weltmeisterschaften 1974/1978 und 1982 ausgetragene Zwischenrunde wurde zur WM 1986 in Mexiko abgeschafft und durch eine K.O. Runde (beginnend mit dem Achtelfinale) ersetzt.

Das erste Spiel für die deutsche Mannschaft im neuen System damals war ein „Rumpler höchsten Grades“, ein 1:0 Sieg gegen Marokko durch einen „Kuller-Weitschuss“ von Lothar Matthäus kurz vor Ende der regulären Spielzeit, der die deutsche Mannschaft vor der Verlängerung bewahrte. (Ehrenwort: Das musste ich noch nicht mal googlen.)

Und das Faszinierende an diesem System ist, dass am Ende oft zwar ein verdienter Sieger steht, dieses aber oft gepaart ist mit einer Menge an Glück, gegnerischen Pfostenschüssen und der richtigen Tagesform.

Die EM-Endrunde wurde bis ins Jahr 1976 übrigens nur in Form von 2 Halbfinal-Begegnungen und dem Finale ausgetragen. Von 1980 – 1992 wurde dann mit einem Feld von 8 Mannschaften in zwei Vierer-Gruppen gespielt, 1996 bei der EM in England dann erstmals mit 16 Mannschaften in vier Vierer-Gruppen. Erstmals mit der EM 2016 in Frankreich wurde das Teilnehmerfeld auf 24 Mannschaften erweitert.

Unter Berücksichtigung dieser Historie war alles, was bisher gelaufen ist, Vor-Geplänkel, quasi eine „nachgeschobene Qualifikationsrunde“.

Und um das mal richtig im Vergleich zu früher einzuordnen:

Die 16 Mannschaften, die ab heute in den Achtelfinals stehen, spielen praktisch „play-offs“, bevor dann die besten acht Mannschaften Europas den Titel ausspielen.

Die deutsche Mannschaft hat die Qualifikation zur Play-Off-Runde gerade mal so mit Ach und Krach geschafft – und wenn ich ehrlich bin: Es hätte mich nicht überrascht, wenn Sie raus geflogen wären. Seit der EM 2016 gab es nur zwei überzeugende Pflichtspiele (ein Sieg in der EM-Quali in Holland und das 4:2 am letzten Samstag gegen Portugal).

Das ist einfach zu wenig, angesichts des Reservoirs an herausragenden Spielern, die Deutschland hat.

Die ganze Fachwelt regt sich über die Sturheit von Jogi Löw auf, der wie ein kleiner motziger Bub auf Dreier-Kette und einem völlig falsch besetzten Mittelfeld beharrt. Aber er ist der Chef und muss die Taktik verantworten.

Die für mich beeindruckendste Szene im Ungarn Spiel war, als er sich im strömenden Regen ein „weißes“(!) Handtuch reichen ließ. „Nivea-Jogi at his best !“

Aber in den K.O. Runden gilt: „Alles ist möglich“

Ich erinnere an die WM 2014, als er erst eine Verletzung von Mustafi dafür sorgte, dass Philipp Lahm aus dem Mittelfeld in die rechte Abwehrposition beordert wurde. Ab dann lief es und es gab nicht wenige Stimmen, die sagten „wir sind nicht mit Löw Weltmeister geworden, wir sind TROTZ Löw Weltmeister geworden“

Mir ist es mittlerweile egal und ich rege mich nicht mehr auf, ändern kann ich es eh nicht.

 

Was mich etwas nachdenklich macht:

Früher wäre ich „heiss wie Frittenfett“ auf ein EM oder WM-Spiel England-Deutschland im legendären Wembley-Stadium gewesen und hätte mir das auf keinem Fall vor Ort entgehen lassen. Dieses Jahr lässt mich das – nicht nur wegen Corona – relativ kalt.

Und ich treffe relativ viele Leute, die mir das gleiche bestätigen. Eine Momentaufnahme oder ein – nicht für den DFB – gefährlicher Trend ?

Ich persönlich hätte mir Hansi Flick bereits bei dieser EM in verantwortlicher Position gewünscht. Eine starke Führung beim DFB (leider eiert dieses Schiff aktuell aus bekannten Gründen ja völlig führungslos daher) hätte dies möglich machen können.

Einen Tipp habe ich für Jogi dennoch für Dienstag:

Hinter der Bahnlinie, die am Wembley-Stadium vorbei führt, liegt eine schöne Parkanlage (Sherrais Farm Open Space) – frisch gemähte Wiesen. Lasst den Leroy Sané dort vor dem Spiel raus, gebt ihm am besten gleich drei Bälle mit und holt ihn dann nach dem Spiel wieder dort ab. Wenn der kleine Leroy dort keine Spielgefährten findet, kein Problem. Der kommt die 90 Minuten alleine klar – das hat gegen Ungarn auch prima geklappt.

Aber freuen wir uns auf interessante Duelle in den kommenden vier Tagen.

Es wird sicherlich Überraschungen geben.

Meine Tipps

  • Dänemark – Wales: 3:1
  • Italien – Österreich: 0:0 n.V. (Österreich gewinnt im 11-M-Schiessen)
  • Holland – Tschechien: 2:0
  • Belgien – Portugal: 1:2 n.V.
  • Kroatien-Spanien: 1:1 n.V. (Kroatien gewinn im 11-M-Schiessen)
  • Frankreich- Schweiz 4:1
  • England – Deutschland 2:2 (England gewinnt im 11-M-Schiessen)
  • Schweden – Ukraine 2:1

Am Mittwoch sehen wir dann, wie es weiter geht.

Darauf, dass Halbfinals und das Finale in England gespielt werden, würde ich im Moment keine Wette abgeben

Max Stillger

EM-Tagebuch – Teil 2: Es steht 1:1 – Alles ist möglich

21 Juni 2021

Mit einem überzeugenden 4:2 Sieg gegen den Titelverteidiger Portugal setzt die deutsche Elf ein deutliches Signal und meldet sich im EM-Turnier an.

Für mich war das gestrige Spiel die beste Leistung einer deutschen Mannschaft in einem „Pflichtspiel“ seit fünf Jahren (inclusive aller Auftritte in Qualifikationsspielen zur WM und EM, sowie der „Unsinn-Veranstaltung“ Nations-League)

Eine solche Leistung sollte der Mannschaft auch das notwendige Selbstvertrauen für die künftigen Aufgaben geben. Und die werden nicht leicht.

Um die nächste Aufgabe gegen Ungarn zu definieren:

Im Gegensatz zu einer WM, kommen ja auch die vier besten Gruppendritten weiter.

Deshalb reicht ein Unentschieden für das Weiterkommen, da bereits nach dem 2. Spieltag feststeht, dass vier Punkte mit einem positiven Torverhältnis (was die deutsche Mannschaft ja dann hätte) definitiv einen Platz unter den vier besten Gruppendritten garantiert (es sei denn die Schweiz schiesst heute die Türkei mit vier Toren Differenz ab.

Aber die Ungarn sind alles andere als ein „Aufbaugegner“ – das hat das 1:1 gegen Frankreich gezeigt.

Als Gruppenzweiter müsste die DFB-Elf dann bereits im Achtelfinale in Wembley gegen den Sieger der Gruppe D (wahrscheinlich England – meinen persönlichen Turnierfavoriten) antreten.

Vor 25 Jahren war genau diese Partie ein erster Höhepunkt meiner „Zuschauer-Karriere“ im internationalen Fussball.

75.000 fanatische Engländer im damals noch alten Wembley brüllten „God save the Queen“ mit einer Leidenschaft, dass es mir und meinen Freunden eiskalt den Rücken runter lief.

Und Paul Gascoigne grätschte um „Sackhaaresbreite“ am Ball vorbei, was das 2:1 für England und den „Sudden Death“ für Deutschland bedeutet hätte. Den Rest der Geschichte kennen wir.

Apropos Geschichte: Vor dem Traum „Wembley“ steht die Aufgabe Ungarn – und auch da gibt es natürlich auch ein großes Spiel als „Vorlage“ – leider können hier immer weniger Zeitzeugen berichten.

Was ich jedem Fussball-Nostalgiker empfehlen kann: Im deutschen Fussball-Museum kann man eine halbstündige Zusammenfassung des damaligen WM-Finales von 1954 verfolgen. Da sieht man viele Szenen dieses Spiels, die die wenigsten kennen – Mein Fazit daraus: „Männer, was haben die Ungarn Chancen gehabt ! – und Toni Turek wurde zurecht als „Fussball-Gott“ bezeichnet“

Bei einer WM (mit 32 Teilnehmern) war ein geflügeltes Wort „Die Vorrunde ist nur Geplänkel, ab dem Achtelfinale geht es los.“ – in vielen Gruppen waren nach dem 2. Spieltag schon die Entscheidungen über das Weitekommen gefallen.

Bei dieser EM mit 24 Mannschaften ist nach dem 2. Spieltag theoretisch noch für jede der teilnehmenden Mannschaften das Weiterkommen möglich. Freuen wir uns auf einen spannenden dritten Spieltag nach dem dann der alte Spruch von Friedel Müller gilt: „Unterm Strich wird abgerechnet.“

Und noch was:

Liebe verantwortlichen Politiker, wir haben mittlerweile eine Inzidenz von 8,8 und sind so weit von einem Kollaps des Gesundheitssystems entfernt wie Nordmazedonien vom Gewinn des EM-Titels. Und nur dieses Argument, rechtfertigt diese einschneidenden Maßnahmen, die noch immer gelten.

Jetzt wird die „Delta-Mutante“ als „neue Sau durchs Dorf getrieben“. Es wird immer wieder neue Mutanten dieses Virus geben – das wird niemals aufhören.

Macht die Kneipen auf und lasst den Leuten endlich mal wieder etwas „Spass mit Mass“ Und mit „Mass“ meine ich nicht das Bier.

Es wird Zeit viele Einschränkungen zu überdenken und ggf. abzubauen.

Erspart uns bitte in den nächsten 2-3 Wochen Belehrungen und Maßregelungen, wie sich Fans verhalten sollten. Das Volk hat jetzt 16 Monate die Füße stillgehalten und weitgehend diszipliniert alle Maßnahmen akzeptiert.

Sollten die Zahlen – wider Erwarten – dann wieder in eine Richtung eines Inzidenzwertes 100 bei einer gleichzeitig steigenden Belegung der Intensivbetten ansteigen, kann man ja wieder entsprechende Maßnahmen ergreifen

Und ich will keinen von Euch bei einer möglichen deutschen EM-Finalteilnahme im Stadion sehen ! Das Finale läuft am 11. Juli im ZDF. In der ARD wird sich zur gleichen Zeit sicher eine Talkshow auf höchstem Niveau mit den Gästen Angela Merkel, Peter Altmeier, Jens Spahn, Olaf Scholz, Markus Söder und Karl Lauterbach einrichten lassen.

Max Stillger

EM-Tagebuch – Teil 1: Weiter – immer weiter !

16 Juni 2021

Mein größer Fehler war es anzunehmen, dass wir mit unserem dominanten Ballbesitzfußball durch die Vorrunde kommen.

Joachim Löw – 29.08.2018 – bei der Pressekonferenz zur Aufarbeitung des Debakels bei der WM 2018 in Russland.

Treten Sie zurück und nehmen Sie Ihren Trainer gleich mit

Max Stillger am 18.12.2018 in einem offenen Brief an den damals noch amtierenden DFB-Präsidenten Reinhard Grindel

 

62% Ballbesitz gegen den amtierenden Weltmeister – da glänzen manchem Statistiker die Augen – aber kaufen können wir uns dafür nichts.

Und ich befürchte, dass ich nach dieser EM die Meinung nicht mehr exklusiv habe, dass es wohl besser gewesen wäre, Hansi Flick noch vor der EM ins Amt zu heben.

Aber diese EM bietet – nachdem jetzt alle Mannschaften ihren ersten Auftritt hinter sich hatten – auch jede Menge Diskussionsstoff außerhalb der DFB-Elf.

Der für mich prägendste Moment war die Szene mit Christian Eriksen, nicht zuletzt deshalb weil ich vor 14 Jahren eine ähnliche Erfahrung – mit leider nicht so positivem Ausgang – aus nächster Nähe miterlebt habe.

Solche Momente zeigen von einer Sekunde auf die andere, dass es wichtiger Dinge im Leben als den Fussball gibt. Wenn da nicht viele Beteiligte unmittelbar die richtigen Maßnahmen eingeleitet hätten, wäre dort einer besten Fussballer, den es momentan auf diesem Planeten gibt, möglicherweise im Sarg aus dem Stadion getragen worden.

Im Profi-Bereich ist dafür gesorgt, dass in einem solchen Fall schnell eine optimale Behandlung gewährleistet ist. Aber wie sieht es im Amateurbereich aus ?

Dort sitzt nicht bei jedem Spiel ein Notarzt an der Seitenlinie.

Deshalb:

  1. Wir brauchen eigentlich auf jedem Dorfsportplatz einen Defibrillator
  2. In jedem Verein muss einer (oder bessere mehrere) Spieler oder Betreuer so ausgebildet sein, dass die auch wissen, wie man so ein Gerät korrekt einsetzt.

Der DFB und die DFL könnten hier große Pluspunkte sammeln, indem man

  1. den Vereinen koordinierte Hilfestellung beim Einkauf bietet
    (wenn alle Vereine ein einheitliches Gerät bei einem Hersteller ordern, kann hier auf höchster Ebene ein ordentlicher Rabatt ausgehandelt werden)
  2. wenn dann noch ein „kleiner Zuschuss fließt“ ist diese Investition auch für kleine Vereine tragbar (ein Gerät kostet um die 1.500 € – bei entsprechendem Rabatt von 500 € und Zuschuss von 500 € pro Verein bleibt ein überschaubarer Betrag von 500 € als Eigenbeteiligung für den jeweiligen Verein hängen)

Wenn eine solche Aktion dazu führt, dass auch nur ein Menschenleben gerettet wird, hat sich diese EM zu spielen (was auch ich durchaus in Frage gestellt habe), gelohnt.

Das ist die Überleitung zu der Frage:

Muss das in diesen Zeiten sein, eine derartige Großveranstaltung – noch dazu in 11 verschiedenen Ländern – zu veranstalten oder hätte man das Ganze nicht lieber abgeblasen ?

Für mich ist dann schon schwer zu verstehen, dass da gestern in Budapest 60.000 ohne Maske im Stadion sitzen und ein Spiel so zelebrieren, wie wir das vor dem März 2020 gekannt haben. Und in Deutschland müssen Gastronomen, Einzelhändler, Künstler etc. nach wie vor große Einschränkungen in Kauf nehmen.

Die Wahrheit liegt wie so oft, wahrscheinlich in der Mitte.

Noch schwerer zu verstehen war für mich allerdings, dass die UEFA vor 3 Wochen 20.000 Engländer nach Portugal transportiert, damit die sich dort ein Spiel zwischen zwei englischen Mannschaften um den Champions-League Pokal vor Ort anschauen.

Warum hat man da nicht in Wembley gespielt ?

Im Moment sind die Corona-Zahlen trotzdem auf dem richtigen Weg – ob es die deutsche Mannschaft auch ist, wird sich am Samstag zeigen.

Ich freue mich jedenfalls auf den Tag, wo der Herr Lauterbach wieder in seinen Keller geht, in dem er dreißig Jahre lang vor Ausbruch der Pandemie gesessen hat.

Und ich freue mich auch endlich wieder auf den heimischen Sportplätzen mit vielen altbekannten „Strategen“ Fachgespräche bei Bier und Bratwurst zu führen.

Max Stillger